- Autor: Knut
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Wenn ich die Leute auf der Straße frage, ist Thelema eine neue Religion. ("Leute auf der Straße" fragen heißt dieser Tage, googeln). Manchmal heißt es einschränkend, Thelema sei eine "neureligiöse Bewegung". Da stelle ich mir eine Anfängerreligion vor. Von und für Amateure. Die Amateure legen die Löffel noch ab und an auf die falsche Seite; ihnen fehlen Stempel und Würde einer richtigen Religion - aber hach, die Kindchen arbeiten dran!
Einige in der magischen Szene und mancher Orden sind mit Thelema als neuer Religion zufrieden. Ich bin es nicht. Ich schlage als Unterscheidung vor,
- Thelema als Kult des Sterns und der Schlange. Dazu v.a. von Mike die zwei Bände "Die Wiederverzauberung der Welt". Band 1: THELEMA Fibel, Band 2: Die frohe Botschaft
- Thelema als Religion. Als Ausganspunkt bietet sich der Wikipedia-Eintrag zum Stichwort Thelema an.
Was sagt das Liber L vel Legis dazu?
"Ich bin in einem geheimen, vierfachen Wort die Blasphemie gegen alle Götter der Menschen" (Liber L vel Legis). Deutlicher kann sich Thelema von den Religionen nicht absetzen. Die heutigen Religionen (das war nicht immer so) sind fundamentalistische Weltanschauungen. Jede Religion hat ein Dogma, welches als ewige Wahrheit geglaubt wird. Früher war Religion gewusste Selbstverständlichkeit, heute sind Religionen geglaubte Weltanschauungen. Deutlicher Kontrast dazu auch in Nuit, 58. "Ich gebe unvorstellbare Freuden auf Erden: Gewissheit, nicht Glauben, während des Lebens und nach dem Tod; unsagbaren Frieden, Ruhe, Ekstase; ich verlange auch überhaupt keine Opfer dafür."
Dennoch hält das manche nicht davon ab ... Die religiöse Deutung versteht Thelema als Konglomerat aus esoterischen Überlieferungen (Alchemie, Hermetik, Okkultismus) und der je individuellen Bedeutungsgebung. Ich habe den Eindruck, die Leute, die diese Richtung vertreten, wissen, worum es geht. Wo Thelema nicht religiös aufgefasst wird - ja, was ist es dann? Ich habe einige charakteristische Unterschiede zusammengetragen:
Zwei aktuelle Auffassungen von Thelema
Thelema als Kult | Thelema als Religion |
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Die Sonne im Zentrum: unendliche Energie, Schöpferkraft | Die Sonne im Werden und Vergehen |
Die Götter sind innen und außen, jeder Mensch ist göttlich und auch die Welt(en) sind belebt | Die Götter werden als vom Menschen getrennt aufgefasst. |
Die Zukunft gestalten | Aus den Traditionen der Vergangenheit ernten |
Ein Thelemit, ein Wort. Gesagt, getan. | Ein Thelemit übersetzt Symbole in andere Symbole. Gute Absichten sind nicht weniger wichtig als Taten. |
Die entscheidende Kraft ist transrational = Wille. Beachte: Wille integriert Rationalität. | Die Kräfte der Prärationalität = Gefühle. Beachte: Gefühle distanzieren Rationalität. |
Richtig ist, was a) dem Konsens der Forschungsgemeinde der Welt zumindest entspricht; b) der eigenen Erfahrung entspricht. Thelema darf diesem Konsens nicht widersprechen, andererseits kann man nicht erwarten, dass die Forschergemeinde den Mut von Dissidenten teilt. Sie würden unsere Bücher evtl. nicht mittragen, aber liefern Prämissen und Zwischenergebnisse dazu. | Richtig ist, was Crowley niederschrieb, unter Berücksichtigung der Hierarchie der Publikationsklassen. |
Diener des Sterns und der Schlange
"Der Thelemit ist der Diener des Sterns und der Schlange: Nu und Had. Diese Sklaverei ist die Quelle aller Freiheit und Individualität, weil die Götter nichts von uns Getrenntes, sondern "über [uns] und in" uns sind. Sie können sich den Menschen zwar verweigern, aber verweigern damit sich selbst Realität. Sie bieten ihre Gaben den Menschen an, aber drängen sich nicht auf." (Michael D. Eschner)
Die Götter anzunehmen und sich selbst anzunehmen, sind unterschiedliche Aspekte des Gleichen. Da ist kein Gegensatz, weil eins das andere bedingt. Hierin gründet die thelemische "Häresie" und von dieser Prämisse aus sehe ich nicht, wie man eine neue Religion wollen könnte, die ja auf der Trennung von Mensch und Göttern basiert.
MDE fährt fort: "Nur, wenn der Mensch die Götter bewusst und gewollt annimmt, d.h. sich selbst in dem, was er ist, bewusst und gewollt annimmt, wird er nicht von ihnen bestimmt, sondern kann selbst über ihre Kräfte verfügen."
Aaron
Ist Thelema nicht mehr?
Hi Knut,
sehr interessant fand ich deine Tabelle, Thelema als Kult und Thelema als Religion. Beim Lesen dachte ich mir, ob Thelema nicht beides ist? Also sowohl eine Religion, als auch ein Kult? Ich denke da immer wieder an den einen Vers: (...) Alle Worte sind heilig und alle Propheten wahr; ausser, daß sie nur ein wenig verstehen (...). Das impliziert für mich, dass jeder Mensch, welcher natürlich sein eigener Prophet ist, auf seine Art und Weise lebt, durch seine Einzigartigkeit. Und da jeder Mensch einzigartig ist, kann er de facto nie alles verstehen, sehen wir mal vom "Werden" ab. Das heißt, woher will ich wissen, was der einzelne Mensch darunter versteht? Vielleicht ist gerade die Religion genau der Ansatzpunkt, das ihm hilft über sich selbst hinaus zu gehen? Und vllt ist der Kult genau das, was andere Menschen daran hindert weiter zu gehen? Damit will ich sagen, wenn ich jetzt versuche Thelema zu definieren, kann ich nur das definieren, was ich bin bzw mir wünsche zu sein etc.. Aber ich kann eigentlich keine Definition für "alle" machen. Die einzige Definition die ich bisher (meine alte Texte im Blog sind nur eine Form der Hilfe, um mehr zu verstehen, um es dann doch wieder zu verwerfen) gefunden habe, ist "Thelema" :-) "Tu was du willst" und "Liber L vel Legis".
Wie siehst du das?
93er Grüße, auch an M.Y.!
Aaron
Knut
Ich wollte anregen, sich selbst zu verorten
Hallo Aaron,
dass du hier schreibst, freut mich! :-) Du sprichst da ein überaus spannendes Thema an. Kann Thelema auch beides sein, Kult und Religion? - das kommt drauf an. Ich hatte bei "Religion" an die Bedeutung gedacht, die die Katholische Kirche ihr gab. Und wo Crowley als Urvater von Thelema sanktioniert wird, folgt diese Praxis ebendieser Tradition. (Zumindest versucht sie es. Ob der Schuh einem dann passt, ist eine andere Frage).
Nuit, Vers 56 nennt "alle Worte" heilig und "alle Propheten" wahr. Ich vermute, es gibt keine Religion ohne Propheten, ok - aber reichen Propheten und heilige Worte aus, um von Religion zu sprechen? (Sie sind notwendig, fraglich ist, ob sie hinreichend sind). Sie reichen nicht, wenn zu einer Religion auch sowas gehört, wie Laienstand und Klerus und dass es organisatorische Hierarchie gibt. Das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit ist eine Bestätigung des Anspruchs der Katholischen Kirche, sich über die Welt zu setzen, wie sie den Alleinvertretungsanspruch seit den Kirchenvätern vertritt. Die Laien werden nicht eingeweiht, sondern ihnen wird die Lehre (meist: in Moralvorschriften) übersetzt - sie sollen nicht Gott erfahren, sondern ein Gottgefälliges Leben in Glaube und Frömmigkeit führen.
Nochmal: Kann Thelema auch beides sein? Ja, wenn man "Religion" anders (als ich weiter oben) angeht, kommt was anderes zutage: Du fragst, ob Religion ein Ansatzpunkt sein kann, um über sich hinauszugehen. Ja, klar! Kein Dissens. Da ist vielleicht eine Ahnung, dass da 'mehr' sein müsse als das, was die Gesellschaft von der Welt weiß ... Die Weltreligionen, man mag sie beargwöhnen, wie man will, haben doch alle einen Kern bewahrt, einen Widerschein von etwas Größerem, Vollständigeren, Schöneren - vom Göttlichen - man muss ihn nur suchen ...
Und dann gibst du dich nicht mit einem Dogma zufrieden, sondern befragst das Liber Legis, hörst andere an und behältst dir die eigene Prüfung vor. Das kann ich unterschreiben.
Liebe Grüße, auch von M.Y.
Knut